2023-09-17

(Nicht nur) mit Spitzenfußball überfordert

Tipp vorab: Da ich meinen Einsatz hier etwas zurückfahre, geht es hier heute auch um mehr als ein Spiel. Wer auf meinen Blick zurück vor die Länderspielpause verzichten möchte, scrollt gleich bis unten durch.

 

"Es wird schwäär, das ist klar": Man musste kein Prophet sein, um die weisen Worte von Lucien Favre über die Bilanz der ersten Bundesligaspiele der neuen Saison zu legen. 

Gegen Leverkusen und die Bayern wurde auch dem letzten Fan deutlich gemacht, dass es in diesem Jahr nicht darum gehen wird, Spitzenteams zu schlagen, sondern erstmal die Basics zu erfüllen, die Hausaufgaben zu machen, und die Punkte gegen Teams mit einer vergleichbaren Kragenweite zu holen. Das war Borussia in den Jahren zuvor zu häufig nicht gelungen. Insofern waren die Niederlagen gegen Bayer und Bayern für Realisten keine wirkliche Überraschung. 

Weit tiefer in die Problematik lässt der (erneut) sehr spezielle Auftritt von Borussia Mönchengladbach heute beim bis dato ähnlich unerfolgreichen Gegner SV Darmstadt 98 blicken. Und ich denke, auf diesen Blick hätten wir in der Deutlichkeit auch gern verzichtet. Doch dazu später mehr.  


Nichts zu melden

Eine schmerzhaft klare Sache gab es schließlich auch schon bei der Heimpremiere. Es hat nämlich lange schon keine Mannschaft mehr so dominant im Borussia-Park aufgespielt wie die Gäste aus Leverkusen - auch nicht Freiburg bei diesem bemerkenswerten 0:6 damals und auch nicht der Rekordmeister aus München eine Woche später. 

Die Mannschaft von Xabi Alonso ließ Borussia in keiner Phase des Spiels eigene Akzente setzen, die Niederlage hätte vor allem in Halbzeit eins durchaus höher ausfallen können. Das lag natürlich auch daran, dass Borussia bei der Erneuerung der Mannschaft finanzielle Grenzen gesetzt sind, dem Gegner aber nicht. So kaufte der sich für einen hohen zweistelligen Millionenbetrag noch weitere Torgefahr ein, und dazu auch zwei Ex-Gladbacher. 

Während der gereifte Granit Xhaka das Spiel seiner Mannschaft nahezu alleine dirigierte, blieb Jonas Hofmann bei seiner Rückkehr an die alte Wirkungsstätte eher eine Mitläuferrolle. Der Empfang für Granit war erwartbar positiv, der für Hofmann erwartbar durchwachsen, mit Pfiffen und Applaus. Das war alles durchaus im Rahmen, habe ich mit Freude festgestellt.  

Das Nachkarten im Interview nach dem Spiel hätte sich Hofmann daher besser - genauso wie Roland Virkus direkt nach dem Wechsel - einfach gespart. Aber was soll's.

Die Pfiffe gegen den Ex verblassten angesichts der tollen Unterstützung der VfL-Fans für die eigene Mannschaft sowieso. Bei aller Geduld, die es brauchen wird und bei aller Unfertigkeit des neuen Borussia-Projekts war die Unterstützung im Stadion trotz des chancenlosen Auftritts der Mannschaft heute ein ganz wichtiger Fingerzeig für die Saison. 

Bleiben wir also geschlossen und geduldig, auch wenn wir die Grenzen erkennen, die der Mannschaft derzeit gesetzt sind.

Saison 2023/24, Bundesliga, 2. Spieltag: Borussia Mönchengladbach - Bayer Leverkusen 0:3.  

 


Eine Frage der Ehre

Eine eigentlich klare Sache war das auch im zweiten Heimspiel in Folge, diesmal gegen Lieblingsgegner Bayern München - aber dennoch ein völlig anderes Spiel. Die Seoane-Elf hatte aus den Fehlern des Leverkusen-Spiels gelernt und stand äußerst kompakt und geschickt vor dem eigenen Tor, bemühte sich gar nicht erst, auf Augenhöhe mitspielen zu wollen. Das klappte wie in den Vorjahren öfter, doch recht gut. In der ersten Hälfte fiel den Münchnern trotz viel Ballbesitz und dominantem Spiel nicht viel ein, was das Tor von Moritz Nicolas gefährden konnte.

Auf der Gegenseite versetzte Ko Itakura mit dem 1:0 nach schöner Eckball-Kombination dem Gegner genau den Stich, den wir erhofft hatten. Denn sofort hatten die Gäste den "Angstgegner" wieder tief im Kopf sitzen. Ein nach dem Sieg sichtlich aufgekratzter Thomas Müller bestätigte das im Interview und erklärte sogar noch, was Gladbach für ein geiler Verein sei. Das hatte sich im Schatten von Niederlagen gegen Borussia zuletzt öfter ganz anders angehört.

Aus VfL-Sicht war erfreulich, dass sich das Team und die Fans erneut als Einheit verstanden und das Stadion anzündeten. Wie es sein soll, ging der Funke vom Einsatz auf dem Feld aus, wo um jeden Meter giftig gefightet wurde. 

Rocco Reitz mit einem tollen Startelf-Debüt war da sehr auffällig, aber es fiel auch niemand ab. Schon gar nicht, als Fußballgott Tony auf den Platz kam, um FCB-Superstar Harry Kane mal Hallo zu sagen. Der traf an diesem Tag außer Jantschkes Knöchel folgerichtig: nichts. Besonders gefreut habe ich mich über die abgeklärte Leistung von Moritz Nicolas, der den verletzten Jonas Omlin hervorragend vertrat.

Sei es drum, dass die Bayern spät, aber doch klar verdient zum Siegtreffer kamen, war unstrittig. Für Borussia war aber schon vor dem Spiel klar gewesen, dass die Saison erst so richtig nach der Länderspielpause losgehen würde. Und am Maßstab Darmstadt sollte sich ablesen lassen, was der Einsatz und die Fortschritte der neuen Mannschaft zu dem frühen Zeitpunkt der Saison wert sein können.

Saison 2023/24, Bundesliga, 3. Spieltag: Borussia Mönchengladbach - Bayern München 1:2. Tor für Borussia 1:0 Itakura.



Pfui und hui

So weit, so gut. Und dann kam dieses Spiel. Eine Katastrophe auf 22 Beinen in der ersten Halbzeit, eine starke zweite Hälfte, allerdings mit einem Überzahl-Vorteil, der einem so nur selten zuteil wird. Am Ende wurde aus einem 0:3, was auch ein 0:5 zur Pause hätte sein können (und verdient gewesen wäre) noch ein 3:3 gemacht, was wiederum da dann schon fast zu wenig war - weil die zweite Halbzeit auch 6:0 oder 7:0 hätte ausgehen können. Unter dem Strich ähnlich nervenaufreibend wie das 4:4 in Augsburg, aber auch irgendwie beunruhigender.

Denn das in der ersten Halbzeit war all jenes in Reinkultur, was wir seit Jahren gegen kampfstarke Mannschaften sehen. Planlosigkeit, schwaches Zweikampfverhalten, kein Zugriff, hanebüchene Stellungsfehler und über allem das Wissen, dass man auch diesmal gegen schlichten, geradlinigen Fußball und viel Körpereinsatz kein Mittel findet - egal, wer auf dem Platz steht und egal, wer der Trainer ist. Versagen mit Ansage, Teil xy.

Wer als VfL-Fan zur Halbzeit nicht zumindest mal an das Wort Abstieg gedacht hat, kann sich zu seiner Resilienz gratulieren. 

Es zeigt sich aber auch, dass man Abgesänge im Fußball nie zu früh anstimmen sollte. Zumindest in dieser Partie brachten der Zufall und ein kleines "vielchen" Glück den Phönix-Moment für Borussia - und die Mannschaft ins Spiel zurück. Der erste schöne Angriff, der zum Platzverweis von Maglica führte, hätte an sich schon ein Tor verdient gehabt. 

Wertvoller wurde er für die Seoane-Elf aber, weil er unvollendet blieb. Das lag auch daran, dass Maglica im Laufduell mit Cvancara versuchte, diesen im Strafraum mit seinem linken Arm ein wenig aus dem Gleichgewicht oder aus dem Konzept zu bringen; jedenfalls aber, um ihn nicht ungehindert aufs Tor schießen zu lassen. Nun ging der Griff/der Handwischer aber nicht an den Arm des Gladbacher Stürmers, sondern dazwischen durch, sodass er dabei auch den Ball leicht berührte und "mitnahm". Eine absolut leichte Berührung, aber eine, die man als strafbar werten kann. Zum Glück für Gladbach durfte hier der VAR sogar eingreifen, weil Schiedsrichter Timo Gerach den Handkontakt vorher nicht wahrgenommen hatte.

Hätte er dies gesehen und als zu leicht bewertet, wäre es zu dem Rest gar nicht erst gekommen und wir würden über die Partie aus Borussensicht wohl anders reden als jetzt.
In jedem Fall finde ich die Hand-Entscheidung gut vertretbar, aber nicht alternativlos. Denn einen "einhakenden" Körperkontakt, der ähnlich irritierend für den Torabschluss des Stürmers gewesen wäre, hätte sicher kein Schiedsrichter gepfiffen. Andererseits hatte der Handwischer nichts mit einer natürlichen Laufbewegung zu tun und diente nur dem Ziel, den Gegner zu stören. Dass dabei ein Handspiel unterlaufen kann, gehört zum Risiko dazu. Dass es im gesamten Zustandekommen eine sehr glückliche Fügung für Gladbach war, steht aber außer Frage.

Schwierig finde ich die Rote Karte. Regeltechnisch völlig ok - dass Gerach ohne diese Aktion eine klare Torchance mit Ballkontrolle für Cvancara sieht, begründet den Platzverweis. Dennoch ist diese Bestrafung mit Elfmeter und Rot sehr hart. Aber wo ist die Grenze zu ziehen? Ganz so eindeutig ist das nicht, das gab der SR im Prinzip auch zu, als er sagte, dass er auf dem Platz eine Entscheidung zu treffen hatte. Wenn er sie wie hier klar und nachvollziehbar begründet, mag das auch für den Gegner akzeptabel sein. Doch die nächste vergleichbare Szene, die anders ausgeht, wird sicher schon in den Startlöchern stehen.

Am Ende war die Szene natürlich der Knackpunkt im Spiel. Borussia war zwar mit vier Wechseln, einer anderen Einstellung und mehr Mut aus der Kabine gekommen. Doch ob das gereicht hätte, um im Elf gegen Elf nicht nur zu bestehen, sondern ein 0:3 aufzuholen? Das darf man getrost verneinen. In Überzahl und mit nahezu allen Offensivkräften auf dem Platz fiel es dem VfL dagegen dann fast schon erstaunlich leicht, den Gegner zu bespielen. 

Darmstadt war sichtlich geschockt, verteidigte luftig, zog sich tief zurück, ohne wirklich kompakt zu wirken und fand erst nach dem Ausgleich wieder in eine bessere Verteidigungshaltung zurück. Borussia ließ in dieser Phase zu viel liegen, die Chancen waren da, auch abgesehen von dem jämmerlich vergebenen Elfmeter, den Cvancara immerhin mit seiner "Wut-Fackel" zum 3:3 halbwegs wieder geraderückte.

Die zweite Halbzeit war damit immerhin geeignet, uns wieder zu beruhigen. Bei Twitter war in der Halbzeit die Borussia-Blase schon schier implodiert. Zum Glück gab es danach auch wieder Versöhnlicheres zu schreiben, denn eigentlich will ja keiner von uns der Mannschaft etwas Böses. Aber sie müssen wissen, wo der Schmerzpunkt der Fans sitzt (nicht sehr tief, das ist klar). Denn der Schatten der Vergangenheit darf nicht auch von ihnen wieder Besitz ergreifen. So schien es phasenweise. Doch nach diesen aufreibenden 90 Minuten ist der zur Halbzeit fast aufgebrauchte Kredit auch wieder da.

Große Erkenntnisse kann man aus Hälfte zwei dennoch nicht ableiten, Erleichterung sowieso nicht. Denn gegen 10 Mann ist auch der beste spielerische Auftritt nur ein Muster ohne Wert, weil im nächsten Spiel wieder elf Gegner auf dem Platz stehen. Weder Flo Neuhaus noch ein anderer Spieler wird gegen Leipzig Räume wie heute in der zweiten Halbzeit haben oder so wenig Pressingdruck durch den Gegner, sodass man seine Angriffe gepflegt und weitgehend ungestört über mehrere Stationen vorbereiten kann.

Deshalb nehme ich auch die tollen Einzelleistungen etwa von Rocco Reitz vor dem 1:3 oder Cvancara positiv zur Kenntnis, ordne sie aber auch in den Kontext dieses Spiels ein. Im Moment ist nicht die Zeit, sich über die Einzelleistungen zu definieren, sondern über das Kollektiv. Und das funktionierte heute erst nach erheblichen Umstellungen und mit Schützenhilfe. 

Den kleinen Fingerzeig für die Saison, den wir uns vom Spiel gegen diesen vergleichsweise "machbaren" Gegner versprochen hatten, den gibt es heute ehrlicherweise nicht. Borussia bleibt eine Baustelle, hat teilweise besorgniserregende Schwachstellen, aber auch: eine gute Substanz. Es bleibt absehbar schwäär! 

Saison 2023/24, Bundesliga, 4. Spieltag: Darmstadt 98 - Borussia Mönchengladbach 3:3. Tore für Borussia: 1:3 Jordan, 2:3 Neuhaus, 3:3 Cvancara.

 

 

Saisonspende: Keine Ausbeute aus dem Leverkusen-Spiel bedeutete: 12 Euro. Aus dem Bayern-Spiel kommt ein Euro hinzu, aus Darmstadt drei weitere. Neuer Stand somit: 16 Euro.

Das gilt in der Saison 23/24: Für jedes erzielte Tor von Borussia in Bundesliga oder DFB-Pokal zahle ich 1 Euro. Für jedes Tor von Tony Jantschke oder Christoph Kramer: 10 Euro. Gehaltener Elfmeter von Jonas Omlin oder einem anderen Torwart: 2,50 Euro; Zu-Null-Spiel: 1 Euro. Derbysieg gegen K***: 10 Euro. Siege gegen Bayern, Dortmund oder Leipzig: 10 Euro. Ein Sieg in Freiburg: 10 Euro. Einstelliger Tabellenplatz am Saisonende: 10 Euro. Internationaler Startplatz am Saisonende: 20 Euro. Deutsche Meisterschaft: 123 Euro. DFB-Pokalsieg: 50 Euro. Gladbacher Torschützenkönig: 30 Euro.

 

2 Kommentare:

  1. Sehr feiner und tiefsinniger Kommentar, wie immer von Dir :-)

    Gut fand ich die Reaktion des Trainers nach dem Darmstadt-Spiel, der sich eben nicht vor die Mannschaft stellt, sondern die erste Halbzeit stark kritisiert und damit auch seine und die Arbeit des Trainerteams hinterfragt hat.

    Ich denke ganz allgemein, dass unsere neuformierte Truppe im hinteren Mittelfeld (11 bis 14) dieser Saison landen wird und in der nächsten Spielzeit, wenn sich alle gefunden haben und Automatismen eingespielt sind, die europäischen Plätze anvisieren kann. Einen Abstiegskampf mag ich mir gerade nicht vorstellen.

    Trotzdem hoffe ich auf ganz viel Ausbeute für die Saisonspende, die ich, mittlerweile ganz traditionell :-), mitgehe.
    Aufmerksam machen möchte ich Dich in diesem Zusammenhang auf ein Projekt, welches mir im Lauf der Frauen-WM begegnet ist: https://www.hawar.help/de/projekt/scoring-girls/

    Auch wenn Du nicht mehr jeden Spieltag kommentierst, freue ich mich immer wieder auf Deine fundierte Kritik und Deine hervorragende Analyse.

    Grüße aus Düsseldorf
    Elke

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  2. Hallo Elke, vielen Dank für dein Lob und die netten Worte. Deine Einschätzung halte ich auch für realistisch, aber wer weiß, vielleicht kommen die Fortschritte ja doch schneller, als wir jetzt denken. Hauptsache, das Verletzungspech hält sich in Grenzen. Das Projekt gefällt mir gut, vielen Dank für den Hinweis!
    Bis bald, Michael

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