Leider oder Gott sei Dank: Ich konnte das Spiel am Samstag nicht live sehen, und nach dem Verlauf des Spiel-Tickers und dem anschließenden Twitter-Scherbengericht über die Farke-Elf habe ich lange mit mir gerungen, ob ich mir die Partie im Re-Live überhaupt anschauen und etwas dazu schreiben wollte. Natürlich habe ich es am Ende doch getan.
Und erneut habe ich festgestellt: Ohne die emotionale Ungewissheit eines Livespiels erscheint manches dann doch nicht so dramatisch schlecht, wie es im Eifer des Gefechts wahrgenommen und später wiedergegeben wird. Man schaut "emotionsentladener" zu.
Fakt ist und bleibt aber: Es kommt zu wenig rum, in allen Belangen, zumal für die Besetzung eines Kaders, der für deutlich mehr als Platz 10 oder schlechter gedacht und in der Lage ist. Zu viele Spieler bringen ihre Klasse nicht auf den Rasen - oder wenn, dann nur phasenweise.
Auch in Stuttgart zeigte sich eine bis in die wilde Schlussphase stabile, geordnete Borussia, die sich wie in den vergangenen Wochen defensiv nicht fehlerlos, aber doch konsequent und aufmerksam präsentierte und auch die Konter der Schwaben bis auf einzelne Situationen gut entschärfen konnte.
Das immerhin ist eine Eigenschaft, die wir im mittleren Drittel der Saison beklagt und schmerzlich vermisst haben. Damals spielte Borussia durchaus forsch und fordernd nach vorne, arbeitete sich auch in jedem Spiel eine Reihe von Chancen heraus - nutzte davon aber meist weniger, als sie sich hinten durch sorgloses Verteidigen einfing.
Insofern ist nicht alles schlecht an dieser letzten Phase einer unter dem Strich verkorksten Saison. Doch allein mit konzentriertem Verschieben gegen den Ball und auf der anderen Seite Ballbesitz, der nicht zwingend und im Passspiel Richtung Tor nicht sauber genug ist, tut man dem Gegner nur selten weh. Und so gewinnt man auch keine Spiele.
Dass eine Kombination von guter Defensive und durchschlagskräftiger Offensive nicht drin ist, sieht man nicht erst unter Farkes Leitung beim VfL. Die richtige Balance fehlt seit Jahren in entscheidenden Saisonphasen oder sie wurde nur bei einigen wenigen Highlight-Spielen erreicht.
Der VfL schafft es seit Wochen nicht mehr, zumindest so viele hochkarätige Chancen herauszuspielen, dass man wenigstens von unglücklicher Niederlage reden könnte, wenn der Gegner mehr Tore schießt. Das war mit Thuram, Koné und Bensebaini so. Und es ist nachvollziehbar, dass es gestern ohne diese Topspieler eben auch viel anders war.
Dass der zweite Anzug nicht so passt, wie er es eigentlich für die angepassten Ziele müsste, ist auch nichts Neues. Umso glücklicher können wir sein, dass das Verletzungspech uns bislang nicht so übel mitgespielt hat wie in manchem Jahr zuvor. Denn dann wäre ein Abrutschen nach unten angesichts der gezeigten (oder nicht gezeigten) Leistungen um einiges wahrscheinlicher gewesen.
Dabei ist es nicht so, dass die Borussen nicht nach vorne spielen wollten. Doch sie tun es nur dann mit der notwendigen Ernsthaftigkeit und Vehemenz, wenn sie durch Rückstände dazu gezwungen werden.
So nach dem 0:1, wo nach der 30. Minute über Netz und Neuhaus der erste gute Spielzug mit einem gefährlichen Torschuss zu verzeichnen war, dem zwei, drei weitere gute Angriffe folgten - weil Gladbach plötzlich mehr Zug zum Tor entwickelte. Gleiches ließ sich auch in den Partien zuvor beobachten.
Das wiederum wirft andere Fragen auf, nämlich die nach der richtigen Einstellung zum Ziel des Spiels, Tore zu erzielen und Spiele für sich zu entscheiden. Stattdessen wirkt es oft so, dass man sich mit einem 0:0 ganz wohl fühlt - als hätte man das Gefühl (oder gar die Sicherheit), immer dann zulegen zu können, wenn es darauf ankommt. Und das, liebe Fohlenelf, wäre ein fataler Irrtum, wie jeder besichtigen kann, der euch öfter zuschaut.
Unter dem Strich hatte Gladbach aber auch in diesem Spiel zu wenige Phasen wie diese. Es liegt nicht an fehlenden Ideen, wohl aber an der Ausführung. Durchweg ungefährliche Hofmann-Standards, obwohl mit Netz ein ebensoguter Standardschütze bereitstünde. Es gab ausreichend gut gedachte Pässe in die gefährliche Zone der gegnerischen Abwehr, doch keine kommt an. entweder sind die Zuspiele nicht präzise genug, sie werden nicht sauber angenommen oder im Zweikampf zeigt der Gegner die stärkere Widerstandskraft und geht mit Ball aus dem Duell hervor. So fallen letztlich auch Gegentore oder entstehen Situationen wie die, die zu Itakuras Platzverweis führte.
Fazit: Es ist nicht leicht, der Mannschaft beim "Trial and error" zuzusehen. Ich sehe schon, was draus werden soll und werden könnte. Doch es fehlt aktuell in allen Mannschaftsteilen an der Wucht, das Spielglück zu erzwingen und zurückzuholen. Daran, sich durchzubeißen und dem Gegner das aufzuzwingen, was man selbst spielen kann. Diese Eigenschaften zeigen die Gegner durch die Bank im Moment mehr, und deshalb holen sie in der Regel auch verdiente Punkte gegen unsere Borussia.
Zur Schirileistung: Es gab die gewohnten Kleinigkeiten, die man anders sehen konnte als Tobias Welz, aber nichts Dramatisches - abgesehen vielleicht von einem Zweifel am 0:1, das aber am wenigsten dem Feldschiri anzulasten wäre. Man kann auch der Meinung sein, dass Tomás im Duell mit Itakura trotz dessen Haltens weitgehend frei zum Abschluss kam und ein Elfmeter nicht zwingend zu verhängen war. Aber so war es auch nachvollziehbar, und dann entscheidet der Zufall, gegen welche nicht klar falsche Entscheidung der VAR sein Veto eben nicht einlegt.
Es verbietet sich ohnehin eigentlich, das groß ins Feld zu führen, da Neuhaus und Co. sich die Niederlage schon über die 90 Minuten selbst eingebrockt haben.
Dessen ungeachtet war das Stuttgarter Führungstor trotzdem ein Abseitstor. Kein Abseits konnte es nur sein, wenn Neuhaus den Ball zum Gegner gespielt hätte, was die Zeitlupe in keiner Weise bestätigt. Der Ball wird von Waldemar Anton mit der Fußspitze gespielt, Neuhaus kann den Ball nur berührt, aber sicher nicht komplett gespielt oder entscheidend abgelenkt haben. Das zumindest gibt keine Kameraeinstellung her, die ich gesehen habe.
Das internationale Schiedsrichterboard IFAB hat das hier angewendete absichtliche Ball spielen ("deliberate play") vor der Saison präzisiert. Und aus meiner Sicht trifft dies nicht auf diese Szene zu. Denn: In Regel 11 heißt es unter 2. (Abseitsvergehen):
"Ein Spieler verschafft sich keinen Vorteil aus einer seiner Abseitsstellung, wenn er den Ball von einem gegnerischen Spieler erhält, der den Ball absichtlich spielt (auch per absichtlichem Handspiel), es sei denn, es handelt sich dabei um eine absichtliche Torverhinderungsaktion eines gegnerischen Spielers."
Die IFAB präzisierte daraus die Unterscheidung zwischen „absichtlicher Aktion“ und „abgefälschtem Ball“:
Eine „absichtliche Aktion“ liegt vor, wenn ein Spieler den Ball unter Kontrolle bringen könnte und die Möglichkeit hat:
den Ball einem Mitspieler zuzuspielen oder
in Ballbesitz zu gelangen oder
zu befreien (z. B. mit dem Fuss oder dem Kopf).
Wenn der Pass, der Versuch, in Ballbesitz zu gelangen, oder die Befreiung durch den Spieler, der den Ball unter Kontrolle bringen könnte, ungenau ist oder misslingt, ändert dies nichts daran, dass der Spieler den Ball „absichtlich“ gespielt hat.
Ob ein Spieler den Ball unter Kontrolle bringen könnte und folglich „absichtlich spielt“, ist anhand folgender Kriterien zu beurteilen:
- Der Ball legte eine gewisse Distanz zurück, und der Spieler hatte klare Sicht auf den Ball.
- Der Ball bewegte sich langsam.
- Der Ball ging in eine zu erwartende Richtung.
- Der Spieler hatte Zeit, seine Körperbewegungen zu koordinieren (d. h. keine instinktiven Streck-, Sprung- oder sonstigen Bewegungen mit begrenzter Ballberührung/-kontrolle).
- Ein Ball am Boden ist einfacher zu spielen als ein Ball in der Luft."
Der Versuch einer "absichtlichen Torverhinderungsaktion" trifft auf Neuhaus Einsatz zu, er will den Pass oder Schuss von Anton blocken. Auch die letztgenannten fünf Punkte treffen zu, nicht jedoch der entscheidende Teil. Neuhaus konnte den Ball weder gezielt noch absichtlich spielen, er tat es auch nicht. Hätte er ihn geblockt und der Ball wäre von dort zum im Abseits stehenden Millot gekommen, wäre die Entscheidung, das Tor zu zählen, korrekt gewesen. So aber nicht.
Die einzige logische Erklärung für die VAR-Entscheidung wäre demnach, dass man in Köln anhand der Bilder nicht zu einer zweifelsfreien Entscheidung pro oder contra Abseits gekommen ist und damit die Tatsachenentscheidung auf dem Feld stehen blieb. Das hätte allerdings dann zwingend nach dem Spiel kommuniziert werden müssen.
Das alles ist doppelt bitter, weil Borussia in dieser Saison in Bochum schon einmal von der Falschauslegung der "deliberate play"-Regel benachteiligt worden ist. Damals war es aber der Bochumer, dessen verunglückten Ball man nachträglich nicht als absichtliches Spiel einordnete.
Mit der Natur des Fußballspiels hat die jetzt getroffene Unterscheidung ohnehin nicht viel zu tun. Es ist eine technokratische Zombieregel, die das sonst notwendige (große) Ermessen des Schiedsrichters ersetzen soll. Dieses Ermessen und das Verständnis für die (Bewegungs-)Abläufe in einem Fußballspiel funktioniert bei der derzeitigen Schiri-Qualität ja ohnehin erschreckend schlecht. Aber wenn man sieht, dass selbst nach dieser Präzisierung Zufall und Fehlern Tür und Tor geöffnet sind, ist es einfach nur ein weiterer Sargnagel auf den Fußballspaß, auf solche Entscheidungen angewiesen zu sein.
Und damit endet das Fußballwochenende auch diesmal frustrierend. Undwieder kann man nur hoffen, dass Borussia nächste Woche einen Schritt nach vorn macht. Wo der Optimismus herkommen soll, muss ich mir aber erst noch überlegen.
Saison 2022/23, Bundesliga, 30. Spieltag: VfB Stuttgart - Borussia Mönchengladbach 2:1. Tor für Borussia: 1:1 Weigl (HEM).
Der Spendenstand erreicht durch "Jule" Weigls Elfmetertor 110 Euro.
Das gilt in der Saison 22/23: Für jedes erzielte Tor von Borussia in Bundesliga oder DFB-Pokal zahle ich 1 Euro. Für jedes Tor von Tony Jantschke oder Christoph Kramer: 10 Euro. Gehaltener Elfmeter von Yann Sommer Jonas Omlin (oder einem Ersatzmann): 2,50 Euro; Zu-Null-Spiel: 1 Euro. Derbysieg gegen K***: 10 Euro. Siege gegen Bayern, Dortmund oder Leipzig: 10 Euro. Ein Sieg in Freiburg: 10 Euro. Einstelliger Tabellenplatz am Saisonende: 10 Euro. Internationaler Startplatz am Saisonende: 20 Euro. Deutsche Meisterschaft: 122 Euro. DFB-Pokalsieg: 50 Euro. Gladbacher Torschützenkönig: 30 Euro.