Heute Abend um 18.50 Uhr hatte ich ein ganz gutes Gefühl. Meine Mannschaft führte 1:0 bei Eintracht Frankfurt, was für mich persönlich als in Hessen geborener, aufgewachsener und auch wieder dort lebender Gladbach-Fan schon mal ein sehr wichtiger Punkt ist. Doch Borussia hatte das Spiel ja auch im Griff, spielte gefällig, mit viel Ballbesitz gegen verunsichert wirkende Frankfurter. Und dann stand ja auch noch das frühe Führungstor durch einen feinen Freistoßtreffer von Kapitän Lars Stindl. Alles in der Spur, so schien es.
Doch dann geschah etwas, was ich nicht zum ersten Mal gesehen, aber in dieser Saison schon für überwunden gehalten hatte. Innerhalb von zehn Minuten verlor die Elf von Marco Rose völlig ihr Konzept, ließ sich überrumpeln und mit einfachsten Mitteln aushebeln. Und sie fand und fand nicht zurück zur eigenen Stärke.
Es ging noch verzeihlich los: Eine unglückliche Abwehraktion von Stefan Lainer im Strafraum führte zum Handelfmeter: 1:1. Keine zwei Minuten später pfiff Schiedsrichter Benjamin Cortus einen Freistoß für die Adler-Träger tief in deren Hälfte. Abraham warf den Ball vor sich auf den Rasen und spielte einen Pass auf Barkok, noch bevor der Ball ruhte. Der schickte Stürmer Silva auf die Reise gegen eine unsortierte VfL-Defensive, die zum Teil noch dabei war, sich über die irreguläre Ausführung des Freistoßes zu wundern.
Als alle gerechtfertigen Proteste beim Schiedsrichter nichts nutzten, gaben die Fohlen das Spiel dann völlig aus der Hand. Barkok machte bei seinem schönen Solo zum 3:1 die gesamte Gäste-Abwehr lächerlich. Ab da wollte den Borussen nichts mehr gelingen.
Das Spiel wurde grausam. Trotz frischen Winds von der Bank gelang Gladbach bis tief in die Schlussphase kein einziger bemerkenswerter Angriff, geschweige denn eine Torchance, die diesen Namen verdient gehabt hätte. Mit zunehmender Spielzeit ballerten Sommer, Ginter oder Kramer hilf- und ideenlos Ball um Ball aus der eigenen Hälfte nach vorn, wo die Frankfurter aber kaum Probleme hatten, die Borussen-Stürmer unter Kontrolle zu halten. Und wenn es doch mal hätte gefährlich werden können, fegten die Hessen mit ihrer noch aus Kovac-Zeiten bekannten Härte ordentlich dazwischen. Allerdings muss man sagen, dass sich in dieser Kategorie die Gladbacher Spieler immerhin zu wehren wussten.
Die Partie wurde zum schwächsten Auftritt des VfL seit langer Zeit. Dass aus
Borussensicht aber doch noch etwas Positives zu notieren blieb, lag allein an
der Willensleistung, mit der sich Dreifachtorschütze Lars Stindl und seine
ebenfalls auf dem Zahnfleisch kriechenden Teamkollegen in der Schlussphase doch noch
einen kaum für möglich gehaltenen und nicht wirklich verdienten Punkt
erstritten.
Dabei halfen drei Dinge.
1) Ein Platzverweis gegen David Abraham, den es vielleicht nicht gegeben hätte, wenn den Schiedsrichter nach der Szene vor dem 1:2 nicht doch ein kleines bisschen das schlechte Gewissen geplagt hätte. Denn vor Abrahams leichtem, aber taktischen Foul an Breel Embolo hatten schon drei andere Eintracht-Spieler regelrecht Jagd auf den Schweizer gemacht, um ihn auf dem Weg nach vorne zu Fall zu bringen. Da ich mich schon so oft über ausbleibende Karten in solchen Szenen geärgert hatte, war ich auch diesmal nicht überzeugt, dass es dafür diesmal eine geben würde.
Doch das anschließende Gerangel zwischen Rode und Embolo brachte vielleicht den entscheidenden Vorteil für Borussia. Rode provozierte den VfL-Stürmer nach dem Foulpfiff, Embolo schubste ihn ein wenig, Rode fiel theatralisch, aber Cortus gab beiden Streithähnen Gelb. Das ist ein übliches Vorgehen, aber dadurch konnte Cortus Rode nicht auch noch für sein vorheriges Foul verwarnen, was deutlich grober war als das seines Teamkollegen Abraham.
Ich bin mir aber nicht sicher, ob Cortus diese Entscheidung auch in einem vollen Frankfurter Stadion und in aufgeheizter Atmophäre so getroffen hätte. Mein unmaßgeblicher Tipp: Dann wäre Embolo mit Rot vom Platz gegangen.
Wie auch immer: Ein wichtiger Nebeneffekt dieses Platzverweises war nicht nur, dass Abraham hinten fehlte, sondern auch, dass Adi Hütter defensiv wechseln musste und keinen schnellen Stürmer mehr bringen konnte, der gegen die aufgerückten Borussen den Sack hätte zumachen können.
2) Ohne das ungeschickte und eher zufällig im Strafraum passierte Foul von Barkok an Embolo wäre Borussia an diesem Abend ganz sicher nicht mehr zu einem Torerfolg gekommen. So aber übernahm der Kapitän wie gewohnt Verantwortung und verweigerte sich auch noch des ungeschriebenen Gesetzes, dass in einem solchen gebrauchten Spiel dann auch geschenkte Elfmeter nicht verwandelt werden können. Lars Stindls Schuss war zwar schwach, aber Trapp konnte ihn nur mit der Hand ins eigene Tor lenken. Bis dahin hatte ich ehrlich gesagt nicht mehr damit gerechnet, dass das Spiel noch eine Wende zum Besseren nehmen könnte. An ein Remis glaubte ich auch trotz des Anschlusstreffers nicht mehr so recht.
3) Die Moral und Verbissenheit, die zum Erfolg führt. Ohne die Zähigkeit, mit der sich Spieler wie Lars Stindl bis zuletzt in jeden Zweikampf stürzen, wäre ein Momentum wie das der Gladbacher in den letzten acht Spielminuten nicht möglich. Zweimal warf sich der Borussen-Anführer in den wohl letzten Kopfball (danke Ibo Traoré für die feine Flanke!), und beim zweiten Anlauf wehte gar ein Hauch von Gerd Müller durch den Frankfurter Fünfmeter-Raum. Richtig stehen und den Ball mit allem, was man hat, über die Linie prügeln - in diesem Moment passte sogar Stindls Figur zu diesem ansonsten sicher nicht angemessenen Vergleich.
Dieses 3:3 war ein absoluter Sieg des Willens und der Moral. Und es ist etwas Positives als letzter Eindruck eines vermurksten Spiels, was bedeutet, dass man davon für die restlichen zwei Spiele vor Weihnachten nochmal zehren kann. Das war ganz, ganz wichtig.
Ja, aber woran lag es denn nun, dass sich die Rose-Schützlinge von der Eintracht so abkochen ließen? Der Trainer wird da intern die Finger sicher genau in die Wunde legen, und seine eigene Taktik und Aufstellung vielleicht auch hinterfragen. Fakt ist, zur Halbzeit kamen in Lazaro und Zakaria zwei neue Spieler für Hannes Wolf und Laci Benes. Letztere waren die, die in der sich zunehmend auflösenden defensiven Ordnung am deutlichsten abfielen. Dabei hatten beide zu Anfang auch gute Szenen gehabt. Doch gerade Benes ging es oft zu forsch offensiv an, sodass in seinem Rücken Räume für die Eintracht entstanden, die Chris Kramer allein nicht schließen konnte. Die Wechsel zur Halbzeit waren zwar folgerichtig, aber sie fruchteten nicht so wie erhofft, weil auch Denis Zakaria und Valentino Lazaro nach vorne zunächst nur wenig bewegten.
Heute zeigte sich, dass Kreativität fehlte. Einer dafür, Alassane Plea, hatte einen sehr durchwachsenen Tag, der mit einem völlig unötigen Schubser gegen Hinteregger und dessen Zusammenpral mit Keeper Trapp begann und wohl mit Schmerzen in der Leiste bei der Auswechslung endete. Jonas Hofmann ist noch nicht wieder soweit, ins Geschehen eingreifen zu können.
Und der wichtigste der unermüdlichen Duracell-Hasen im Borussia-Mittelfeld, Flo Neuhaus, hatte sich mit seiner
5. Gelben Karte gegen Hertha BSC selbst eine Atempause für den Dienstag verordnet. Wie sehr er als
Verbindungsglied und ordnende Hand fehlte, zeigte sich bei dem wilden 3:3 überdeutlich.
So, ihr wartet bestimmt schon die ganze Zeit auf meine Schiri-Schelte wegen des absurden Nichteingreifens vor dem 1:2. Ja, kommt gleich. Denn bevor man hier die Keule rausholt, muss man festhalten, dass es vor allem an der fehlenden Aufmerksamkeit und dem schlechten Verhalten in der Rückwärtsbewegung der Gladbacher lag, dass die drei Gegentore fielen. Alle waren vermeidbar.
Vor dem Elfmeter gab es die Möglichkeit, den Ball früher zu klären.
Vor dem 1:2 muss man natürlich auch wach und darauf gefasst sein, dass der Gegner den Freistoß schnell ausführen könnte und ihn im Idealfall sogar blocken, auf jeden Fall aber den langen Ball auf Silva besser verteidigen. Das gilt vor allem, wenn man dieses Stilmittel, den schnellen Freistoß, selbst gern nutzt.
Und vor dem dritten Tor kann man einfach alles besser machen. Wenn ein Spieler im Strafraum fünf zaghaft angreifende Gegner stehen lässt und den Ball dann auch noch seelenruhig in die lange Ecke schieben kann, ist eine Menge aufzuarbeiten. Aber das sind zum Glück keine Riesenbaustellen, daran lässt sich drehen. Und wenn ein Spieler ausgeruht wäre, würden ihm solche Nachlässigkeiten wohl auch nicht so leicht passieren. Das ist das, was man in dieser Phase des Jahres dann wohl einfach in Kauf nehmen muss. Am Willen hat es jedenfalls auch heute nicht gemangelt.
So, nun zur Szene des Tages, die die Spieler von Marco Rose dann doch so aus dem Konzept gebracht hat, dass das Spiel eine andere Wendung nehmen konnte. Da haben wir heute also alle wieder etwas gelernt über die Feinheiten der Fußballregeln oder das, was die Fußballverwalter daraus gemacht haben.
Für mich als Fußballpragmatiker ist es ganz einfach. Wenn eine Regel nicht eingehalten wird, muss der Sünder zurückgepfiffen werden. Da der Ball beim Freistoß von Abraham nachweislich nicht ruhte, war die folgende Aktion, der Torschuss auf der anderen Seite, folgerichtig irregulär. Wie wie gelernt haben, gilt diese Regel aber nicht immer und für jeden. Sie gilt nur, wenn der Schiedsrichter auf dem Feld es so gesehen hat und entsprechend den Freistoß zurückpfeift. Das passiert nicht selten, ich kann mich an ein paar solcher Situationen zum Nachteil von Gladbach in den vergangenen Jahren erinnern.
Jetzt kommt aber das Irre daran. Der Schiedsrichter auf dem Feld hat es ja nachvollziehbar schwer, diese Frage - Ball ruht beim Tritt des Spielers oder nicht - in Echtgeschwindigkeit richtig zu beurteilen. Er fällt also oft eher eine "Wahrscheinlich-ja"-Entscheidung. Davon profitierte auch Borussia schon, bei einer Freistoßtorvorlage von Chris Kramer, die im Nachhinein für großen Aufruhr nicht nur beim Gegner sorgte, weil da der Ball wohl ebenfalls nicht ganz zum Liegen gekommen war. Damals gab es noch keinen Videoassistenten, der hätte helfen können.
Heute ist das anders. Kein Problem also, denkt der Fußballpragmatiker, dann wird das im Nachhinein eben richtig entschieden. Doch weit gefehlt. Der VAR durfte in dieser Szene den Schiedsrichter nicht über seine Fehleinschätzung aufklären, weil eine inkorrekte Spielfortsetzung (zumindest weit entfernt vom Tor des Gegners) nicht als "match-changing decision" gilt und somit nicht in seine Kompetenz fällt.
Da fehlen mir wieder einmal die Worte. Ein Tor, das aus einem Regelverstoß fällt, hat keinen Spiel verändernden Charakter? Man nutzt ein technisches Hilfsmittel nicht, das den Schiedsrichter in dieser Situation vor einer falschen Entscheidung bewahrt und überlässt es der Wahrnehmung des Referees, ob ein Freistoß, der zu einem Tor führt, korrekt ausgeführt wurde oder nicht? Das ist absurd.
Natürlich: Wenn im Spiel ein Eckball fälschlicherweise gegeben wird und daraus fällt ein Tor, wird dies auch nicht anulliert, denn dann hatte die gegnerische Mannschaft ja noch die Chance, den Eckball besser zu verteidigen.
Bei einem Konter, der aus einem Ballverlust - oder eben aus einem zu schnell ausgeführten Freistoß resultiert, ist das schon viel schwieriger. In diesem Fall muss man auch berücksichtigen, dass der Protest der Gladbacher Spieler und die kurze Ablenkung den Torerfolg enorm begünstigt haben. Es ist zu einfach, den Spielern vorzuwerfen, dass sie eben aufmerksamer hätten sein müssen. Es ist schließlich eine allgemein anerkannte und in der Praxis gelebte Konvention, dass der Ball ruhen muss, bevor er gespielt werden darf. Die Irritation über den Schiedsrichter, der in dieser Szene einen relativ deutlichen Verstoß gegen die Regel übersah, ist nichts Verwerfliches. Und auf dem Niveau, auf dem der Profifußball gespielt wird, ist schon ein Augenblick dieser Ablenkung oft genug, um eine Mannschaft so wie heute entscheidend in ihrem Abwehrverhalten zu stören.
Und doch hätte es in diesem Fall eine klare Lösung gegeben, die die unsinnige Regel, dass der VAR nicht eingreifen durfte, außer Kraft gesetzt hätte. Chris Kramer forderte den Schiedsrichter nach seiner Schilderung ja auf, sich die Szene selbst anzusehen, was der aber ablehnte. Und das ist das, was ich Cortus heute vorwerfe.
Ob er sich sehr sicher war? Oder unsicher? Ob er zu stolz war? Warum auch immer, er hatte es in der Hand, für Gerechtigkeit zu sorgen. Denn wie gesagt: Man kann den Hauptgrund für das Gegentor ja durchaus in der Unaufmerksamkeit der verteidigenden Mannschaft sehen, wie es auch die Schiedsrichter-Erklärer von "Collinas Erben" heute durchblicken ließen. Aber es ist nicht die Aufgabe des Schiedsrichters, dies für sich abzuwägen und in die Entscheidung mit einfließen zu lassen. Er ist da, um dafür zu sorgen, dass den Regeln Genüge getan wird. Das hat er nicht getan, und er hat die Chance versäumt, diesen Fehler zu korrigieren. Und die Spielfortsetzung - Regel 8 im Fußball - ist eine elementare Regel, nämlich die erste, die sich mit dem aktiven Spiel selbst beschäftigt.
Hier wünsche ich mir einfach mehr Einheitlichkeit und Gerechtigkeit. Wie oft werden schnell ausgeführte Freistöße - nicht nur bei Gladbach - zurückgepfiffen. Wie oft verhindert der Schiedsrichter eine gewünscht schnelle Ausführung, obwohl doch der Freistoß ein Vorteil der ballbesitzenden Mannschaft sein soll.
Wieso werden Gegner, die die Ausführung eines Freistoßes permanent verhindern, indem sie sich vor den Ball stellen, so selten sanktioniert? Wie passt das zusammen? Und wie passt der lasche Umgang mit dem unbestrittenen und klaren Regelverstoß vor dem 1:2 heute zusammen mit einer anderen Szene in der ersten Halbzeit, als Benjamin Cortus einen Freistoß für Borussia pfiff, den Ball aber selbst sofort ein paar Meter zurückkickte, und dem VfL damit gänzlich die Möglichkeit nahm, den Ball schnell weiterzuspielen?
Es ist in ein paar Tagen schon vergessen, wie dieses 3:3 heute zustande kam. Aber bei der nächsten vergleichbaren Situation weiß ich doch schon, dass wir auch über den "rollenden Freistoß von Frankfurt" wieder diskutieren werden. Und das ist nicht das, was wir alle wollen. Also, liebe Regelhüter: Lernt aus solchen Vorfällen. Nutzt die technischen Möglichkeiten konsequent, und richtet die Regeln nach dem Sinn des Spiels aus, nicht nach der größtmöglichen Entscheidungs-Flexibilität für Schiedsrichter. Dann klappt's auch mit dne Gladbach-Fans.
Bundesliga
2020/21, 12. Spieltag: Eintracht Frankfurt - Borussia Mönchengladbach 3:3. Tore
für Borussia: 0:1 Stindl, 2:3 Stindl (FEM, Embolo), 3:3 Stindl.
Saisonspende: Drei Tore des Kapitäns zählen in einem wilden Spiel, damit freue ich mich über die aktuelle Spendensumme von 62,50 Euro (+ 1,50 Euro).
Zur
Erinnerung, darum geht's: Ich
spende am Ende der Saison einen Betrag X für einen (oder mehrere)
gute(n) Zweck(e), auf den/die ich mich später festlege. Die Spendensumme
setzt sich wie folgt zusammen: Jedes erzielte Tor von Borussia in
den drei Wettbewerben: 50 Cent. Jedes Tor von Tony
Jantschke: 10 Euro. Platzverweis von Max Eberl oder
Marco Rose: 2,50 Euro. Gehaltener Elfmeter von Yann Sommer (oder einem
Ersatzmann): 2,50 Euro; Zu-Null-Spiel: 1 Euro. Derbysieg gegen K***: 5
Euro. Siege gegen Bayern, Dortmund oder Leipzig: 10 Euro. Ein Sieg in
Freiburg oder Wolfsburg: 10 Euro. Tore oder Vorlagen von Gladbacher Spielern in der deutschen Nationalelf: 1 Euro. Erreichen der K.o-Phase und für jede weitere erreichte CL-Runde: 10 Euro. Internationaler Startplatz am Saisonende: 20 Euro. Meisterschaft oder Finalsieg in CL oder EL: 50 Euro.
DFB-Pokalsieg: 30 Euro. Gladbacher Torschützenkönig: 30 Euro.