Es ist soweit. Saison 2022/23 - es wird ernst. Und ich habe meine kleine Saisonvorschau tatsächlich absichtlich bis zum letzten Moment hinausgezögert, um möglichst klar sehen zu können, wie Borussia für das neue Spieljahr aufgestellt ist.
Ohne Erfolg. Denn seit meinem letzten Text von Mitte Juni hat sich auf den entscheidenden Baustellen leider nicht so viel bewegt wie erhofft. Oder anders ausgedrückt: Es gibt noch immer bei (zu vielen) zentralen Spielern große Fragezeichen, ob sie Borussia auch die gesamte Saison lang zur Verfügung stehen werden.
Das macht es schwer, eine seriöse Einschätzung abzugeben, wie gut der VfL gerüstet ist - in einer Saison, in der die Spitzenclubs Bayern und BVB die vorgeschobene Corona-Demut ziemlich unverblümt durch schulterzuckende Transfer-Hemmungslosigkeit ersetzt haben. Soll man sagen, dass wir uns zum Glück derzeit nicht mehr mit diesen Kalibern auf Augenhöhe messen müssen und kleinere Brötchen zu backen haben? Wie auch immer: Natürlich kann Gladbach auch weiterhin in einzelnen Spielen jedes Topteam gefährden. Und jeder Erfolg wird umso süßer schmecken.
Doch der Fokus muss auf anderen Zielen liegen: Gesundes Überwinden der finanziell fordernden Corona-Zeit, Aufbau bzw. Halten einer schlagkräftigen Mannschaft und deren geschickte Verjüngung und Weiterentwicklung mit einem unaufgeregten, realistischen Trainer. Eine sichere Saison ohne Abstiegsnöte, aber mit der Hoffnung, positiv zu überraschen - das ist das, was für diese Saison das Ziel sein muss. Glücklicherweise scheinen Verantwortliche und Fans das ziemlich ähnlich einzuschätzen.
Und immerhin, es gab ja Entscheidungen - unter dem Strich nur gute. Breel Embolo geht für gutes Geld nach Frankreich. Er hinterlässt aber auch eine Lücke, weil es einen solchen Stürmertyp im Kader sonst nicht gibt. Und natürlich hätte ich ihn als Typ weiter gern in unserem Trikot gesehen und vielleicht auch doch noch seinen endgültigen Durchbruch in die Topklasse der Bundesligastürmer erlebt.
Andererseits steckt in seinem Abgang und seiner Ablöse - wie bei Zakaria - auch eine Art verzinster Dank und eine gewisse Wertschätzung gegenüber dem Verein, der ihn in den vergangenen Jahren wieder in die richtige Spur gebracht hat.
Es wäre schön, wenn auch andere Spieler, die sich am Ende gegen eine Vertragsverlängerung entscheiden wollen, dies berücksichtigen. Natürlich, verlangen kann man es nicht, schließlich ist ein Vertrag letztlich dazu da, erfüllt zu werden. Und nichts anderes wäre der ablösefreie Wechsel. Aber das ist noch Zukunftsmusik.
Zwar kam bisher kein direkter Stürmer-Ersatz für Embolo. Dafür wurde andernorts eine wichtige Baustelle angegangen. In Ko Itakura kam ein wichtiger Baustein für die neue Startelf, der in dieser Ausprägung bislang ebenfalls nicht im Kader stand. Ein richtiger Sechser, der auch als Innenverteidiger eingeplant werden kann und vergangene Saison als Leihspieler auf Schalke überzeugt hat.
Der Japaner ist der schnörkellose Ausputzer und Staubsauger vor der Abwehr, der unserem spielstarken zentralen Mittelfeld bisweilen gefehlt hat. Ein harter, aber fairer Spieler, geschickt im Zweikampf und auch im geradlinigen Passspiel nach vorne. Unter dem Strich aber eben ein anderer Spielertyp als Neuhaus, Koné und auch Kramer.
Dazu verpflichtete Borussia den jungen Dänen Oscar Fraulo, der in eine der Mittelfeldrollen reinwachsen kann und - gemessen an den Testspieleindrücken - das Rüstzeug mitbringt, sich mittelfristig in die Mannschaft zu spielen. Wie einen Zugang muss man auch Eigengewächs Rocco Reitz nach seiner Leihe in Belgien sehen, es ist aber abzuwarten, wie schnell er sich herankämpfen kann, nachdem er die Vorbereitung teilweise krankheitsbedingt verpasst hat.
Ob Torben Müsel und Conor Noß eine große Rolle im Bundesligakader spielen werden, hängt vor allem von der Gesundheit ihrer Kollegen ab. Denn auf ihren Positionen im offensiven Mittelfeld und Sturm ist die Konkurrenz normalerweise zu stark, um sie zu verdrängen.
Weg sind daher auch einige Spieler, denen der Durchbruch bei Borussia offensichtlich nicht mehr zugetraut wurde. Keanan Bennetts, Famana Quizera, Andreas Poulsen hatten in den vergangenen Jahren wenig Chancen, sich auszuzeichnen. Da der Kader insgesamt etwas verschlankt werden soll, ist der Schritt, sie ziehenzulassen, völlig nachvollziehbar.
Das gilt auch für Laszlo Benes, der sich bei allem vorhandenen Können und Talent nie auf Dauer in die Mannschaft zu spielen verstand. Für beide Seiten ist daher der Wechsel zum HSV eine vernünftige Sache, die Gladbach zudem noch eine kleine Ablöse einbrachte.
Erstaunlich ist, dass eins der vieldiskutierten Themen aus der jüngeren Vergangenheit im Moment gar keine Rolle mehr zu spielen scheint. Es ging sowohl und Rose als unter Hütter immer wieder darum, dass die Mannschaft zu brav sei und es einen Drecksack brauche, der sie manchmal mitreißt, Zeichen setzt und aufweckt. Diese Spielerpersönlichkeit ist nicht verpflichtet worden, es ist auch bis jetzt keiner in diese Rolle reingewachsen. Es gibt Pros und Contras, ob ein solcher Spieler wirklich notwendig sein muss. Aber auch wenn man verstärkt wieder auf die spielerischen Stärken setzen will, gibt es die Spiele und Spielphasen, wo ein energisches Dazwischengrätschen notwendig wird. Ich bin gespannt, ob Diskussionen über das Fehlen eines "aggressive leaders" wieder aufflammen werden.
Das hängt vielleicht im Saisonverlauf auch mit der Frage zusammen, wie variabel die Farke-Elf in schwierigeren Spielen agieren wird. Ein Problem der vergangenen Jahre war der oft fehlende "Plan B", wenn die eingeübten Strategien nicht zündeten.
Ich will nichts in Testspiele hineininterpretieren, die sind letztlich für andere Dinge wichtig, als aus Ihnen Schlüsse für die folgende Saison abzuleiten. Dass in der Vorbereitung an der defensiven Struktur und Resilienz, also Widerstandsfähigkeit, gearbeitet wurde, war unübersehbar. Und es war angesichts der Gegentore in der Vorsaison auch Baustelle Nummer 1.
Was mir daneben auffiel, ist allerdings, dass es im Spiel nach vorn in erster Linie darum ging, den Ballbesitz-Fußball, den Daniel Farke ausgerufen hat und mit dem er in der Mannschaft offenbar den richtigen Nerv getroffen hat, wieder verlässlich und mit entsprechenden Routinen einzuüben. Das gelang gegen die unterklassigen Gegner auch ansprechend. Gegen die Gegner auf Augenhöhe war es häufiger eine zähe Angelegenheit, vor allem, wenn der Gegner in einer gut sortierten Defensive gegenüber stand.
Gegen die massiert in der eigenen Hälfte wartenden Teams der Liga wird es also nicht immer auf diese Weise funktionieren. Das hat auch ein Lucien Favre irgendwann erfahren müssen. Ich bin gespannt, wie breit Farkes Instrumentenkasten hier sein wird - und ob er dafür nicht vielleicht doch noch einen anderen Stürmertyp brauchen wird, als ihm Plea, Thuram, Stindl und Herrmann bieten. Zumindest scheint dies ja auch eine Überlegung zu sein, wie Roland Virkus auf der PK am Freitag bestätigte.
Wie auch immer: Borussia ist grundsätzlich komplett, personell gut - nein, individuell überwiegend hervorragend - aufgestellt und startklar. Fürs Erste jedenfalls. Zugänge, so sieht es aus, gibt es aber nur noch, wenn jemand geht. Deshalb sind auch alle Gerüchte um mögliche Neuzugänge im Moment zu vernachlässigen, und ich verzichte darauf, hier Spekulationen anzustellen. Es scheint so zu sein, das Borussias sportliche Führung nach wie vor ihre Kandidatenlisten hat, mit denen man auf mögliche Abgänge angemessen reagieren kann, ohne zu große Risiken zu gehen.
Was fängt man nun damit an?
Es kann sein, dass sich das Mannschaftsgefüge bis zum Transferschluss in gut einem Monat noch mal erheblich verändert - oder sich auf Abgangs- und Zugangsseite wenig bis gar nichts mehr tut. Das wäre in Hinblick auf wichtige Stützen der Mannschaft einerseits eine tolle Nachricht. Andererseits verschöbe es das Problem von drohenden ablösefreien Wechseln im kommenden Jahr auf Herbst oder gar ins Neue Jahr.
Für den Trainer - das machte Daniel Farke auf der Spieltagspressekonferenz auch deutlich - wäre das eine deutlich komfortablere Situation als für den Verein und den handelnden Sportdirektor Roland Virkus. Zumindest bis zum kommenden Sommer - denn auch dann wird es für Borussia kein Geld geregnet haben, mit dem man ablösefrei verlorene Stammspieler spielend ersetzen könnte. Weitere Fälle wie Matze Ginter gilt es natürlich möglichst zu verhindern. Dessen ist sich jeder bewusst. Aber erzwingen kann man in dieser Situation eben auch nichts.
Geduld und ruhiges Blut ist also auch hier vonnöten, nicht zuletzt bei den Fans. Denn mancher lässt sich von medial ausgebreiteten Gerüchten ja doch zu gern und zu schnell gegen einen eigenen Spieler aufbringen. Dass Pfiffe, Unmut und Beleidigungen in Stadion und auf den Social-Media-Präsenzen der Akteure wenig hilfreich sind, einen Spieler von einer Vertragsverlängerung zu überzeugen, ist ja ohnehin klar.
So, lang fabuliert und doch ist es nicht so recht zufriedenstellend, was man über Borussia nur eine Woche vor Bundesligastart sagen kann. Ich bin positiv gestimmt, weil die Atmosphäre im Team offenbar stimmt und der Abgang von Adi Hütter offenbar einige mentale Bremsen gelöst hat. Daniel Farke hat einen fußballerischen Plan und weiß auch, welche Worte er wählen muss, um Fans und Mannschaft wieder zusammenzuholen. Es kann also etwas werden mit der Hoffnung auf eine erfreuliche Saison. Also gehe ich auch mit Freude ins DFB-Pokalspiel morgen gegen Oberachern - obwohl das im unglücksseligen Dreisamstadion stattfindet. Und der Rest wird sich finden.
Also sage ich es mal so: Gentlemen, start your engines. There are many miles ahead. And perhaps some milestones, too! Here we go - we are Borussia!
„Es scheint so zu sein, das Borussias sportliche Führung nach wie vor ihre Kandidatenlisten hat, mit denen man auf mögliche Abgänge angemessen reagieren kann, ohne zu große Risiken zu gehen.“ Wie bitte? Wo war denn dann die Kandidatenliste verschüttet, als es die Abgänge von Zakaria, Ginter und zuletzt Embolo gab?
AntwortenLöschenDie Frage versteh ich nicht ganz. Koné kam im Vorgriff auf einen sich für den Sommer 2021 abzeichnenden Wechsel von Zakaria und/oder Neuhaus, Friedrich (den Borussia schon länger auf dem Radar hatte) als Ersatz für Ginter, der ja auch im Winter noch hätte wechseln können. Und dass nach Embolos Abgang noch ein Transfer im Sturm auf der Agenda steht, hat Virkus in der PK ja bestätigt. Meine Aussage bezieht sich eher darauf, dass man für jede Position genug Optionen auf dem Zettel hat und mit ihnen soweit im Gespräch ist, dass man kurzfristig reagieren kann, sollte noch einer gehen wollen.
Löschen