Der Wahnsinn geht weiter. Und ich stehe fassungslos vor dem, was da heute wieder passiert ist. Es scheint, als könne diese Mannschaft nichts erschüttern. Nicht die lange Verletztenliste, die jedes Spiel um mindestens einen Spieler erweitert wird, und die verhindert, dass sich eine wirkliche Stammelf herauskristallisiert. Nicht die merkliche Müdigkeit, die sich nach sechs Spielen im Drei-Tage-Rhythmus zwingend einstellen muss. Nicht die Nackenschläge, etwa in Form von vermeidbaren Gegentoren, denen man dann erneut hinterherlaufen muss. Nicht die seltsamen Schiris in der Euro League, die dringend einen VAR zur Aufsicht nötig hätten.
Borussia Mönchengladbach hat sich innerhalb von guten vier Monaten entscheidend verändert. Aus dem Team, das Herzen erobern kann und am Ende doch immer im entscheidenden Moment verliert, ist das Team geworden, das Herzen im Sturm erobert und dann auch noch das bessere Ende für sich hat. Ich gebe zu, daran muss ich mich erst gewöhnen und ich warte insgeheim auf den Moment, an dem die Glückssträhne reißt oder ich aus meinem Traum aufwache. Wobei es natürlich nicht nur reines Glück ist, was dem VfL derzeit zur Seite steht. Es ist verdientes Glück, tapfer und teuer erkämpft und bezahlt. Und dieser Einsatz wird irgendwann seinen Tribut fordern. Darauf muss jeder gefasst sein.
Sicher, in Rom hatten wir Glück mit dem späten Elfmeter. Und heute hätte die zweite Hälfte auch ganz bitter werden können. Denn vor und nach dem fast absehbaren Ausgleichstor schien es doch so, als käme der Energiespeicher nicht mehr ganz nach mit der Versorgung der Akkus von Zakaria und Co. Sie schienen müder zu werden, liefen für ein paar Minuten den cleverer auftretenden Römern hinterher und mussten sich auf die sehr wichtigen, aber engen Zweikampfgewinne von Elvedi, Ginter, Lainer, Bensebaini und auf die Reflexe von Yann Sommer verlassen, um nicht mit ganz leeren Händen dazustehen.
Aber was Marcus Thuram und seine Mitspieler in der ersten Halbzeit (und phasenweise auch in der zweiten) mit Rom gemacht haben, das war allererste Sahne. Eine so erfahrene Mannschaft im eigenen Strafraum so unter Druck zu setzen, sie minutenlang daran zu hindern, auch nur einen vernünftigen Ball aus der eigenen Hälfte herauszubringen - das war bärenstark. In den ersten fünf Minuten nach dem Wiederanpfiff gelang dem VfL gleich nochmal so ein Powerpressing, das die Leute von den Sitzen riss. Doch da in dieser Phase nicht das verdiente zweite Tor fiel, gab es letztlich den Römern Auftrieb. Und mit dem Ausgleich, der sich angedeutet hatte, schien das Spiel etwas zu entgleiten. Die Aktionen nach vorne wurden fahriger, die Räume hinten größer und damit natürlich auch die Konteranfälligkeit.
In dieser Phase begann ich zu zweifeln, ob das heute noch etwas werden könnte mit dem Sieg. Dass das Team das wollte, war unübersehbar. Und sie blieben dran, bis zum Schluss. Und wenn man dann in der 95. Minute noch so einen zentimetergenauen Diagonalball zustandebekommt wie der unverwüstliche Denis Zakaria, dann löst das natürlich alle Bremsen. Super natürlich auch Comebacker Plea mit der tollen Kopfballvorlage und Marcus Thuram, der die Nerven behält und eiskalt in die freie Ecke einnickt - das zeigt, welche Qualität Borussia auf dem Platz hat.
Das kann im nächsten Spiel alles schon wieder anders sein. Aber allein das Gefühl, dass es mit den extrem späten Toren jetzt schon mehrmals hingehauen hat, stärkt das Vertrauen der Mannschaft in ihre Lucky-Punch-Mentalität so, dass sie auch wirklich bis zum Schluss nichts unversucht lassen - weil sie (inzwischen) wirklich daran glauben. Es ist ja nicht so, dass das unter Dieter Hecking nicht zeitweise auch mal ganz gut geklappt hätte.
Aber unter Marco Rose fühlt man die unbändige Energie des Teams und das Vertrauen in die eigenen Stärken zuhause bis auf die Couch. Und das lässt uns das Ganze einfach noch intensiver erleben - und auch feiern. Das haben wir uns alle auch redlich verdient, finde ich. Denn es kostet ja jedesmal auch ziemlich Nerven.
Apropos: Zum Schiedsrichter lässt sich auch wieder etwa sagen, zum Glück nichts Spielentscheidendes. Der Spanier Jesus Gil Manzano tat gut daran, das Spiel lange großzügig laufenzulassen, zumal es eigentlich nie eklig zuging in den Zweikämpfen. Er ließ dabei zwar auf beiden Seiten in der ersten Hälfte auch deutlich zu viel weiterlaufen. Doch das fand ich alles in allem noch ok.
In der zweiten Halbzeit wurde seine Foulbewertung jedoch zunehmend wirrer, und das häufig zu Ungunsten von Borussia. Der Gegentreffer fiel zum Beispiel aus einem Freistoß, den es nie hätte geben dürfen. Es war nicht Lainer, der dort gefoult hatte. Im Gegenteil, Lainer war gleich zweimal hintereinander von seinem Gegenspieler getreten worden, während der Österreicher klar den Ball gespielt hatte. Angesichts der krassen Fehlentscheidung beim Handelfmeter im Hinspiel ist das vielleicht etwas, das man als eine Art "ausgleichende Gerechtigkeit" hinnehmen kann, natürlich erst recht mit dem Wissen um den späten Siegtreffer.
Was Jesus Gil Manzano allerdings geritten hat, Kramer und Neuhaus nach dem Torjubel am Ende zu verwarnen, blieb mir bis zuletzt verborgen. Vielleicht gibt es wirklich etwas, was sie sich haben zuschulden kommen lassen. Mir fällt nur nichts dazu ein. Wohl aber zu dem Schiedsrichter, dessen Name mir doch irgendwie bekannt vorkam. Er war der, der vor zweieinhalb Jahren das 0:1 im Hinspiel gegen Florenz gepfiffen hatte. Und das alles andere als gut. So schlimm war es heute gottlob nicht. Aber doch so, dass man - mit Blick auch auf die anderen Stadien - konstatieren kann, dass die Euro League aktuell ein echtes Schiedsrichterproblem hat.
Das kann uns jetzt erstmal für drei Wochen egal sein. Genießen wir weiter den Augenblick und die dauergrinsende, euphorische Sprachlosigkeit über diese Mannschaft, diese Trainer, diese Fans und diesen Verein, der in so kurzer Zeit wieder so eng zusammengefunden hat, wie ich es vor der Saison (nach den Erfahrungen der letzten zwei Jahren) nie zu träumen gewagt hätte.
Es ist sicher der Trainer mit seinem Team, der den Funken gezündet hat, und die Mannschaft, die in Vorleistung gegangen ist. Doch ebensowichtig sind die Fans, die dieser Tage wieder ein hervorragendes Gespür beweisen, wie sie das ehrliche Auftreten und die harte Arbeit der Mannschaft belohnen und ihr etwas zurückgeben können. Wie das Stadion heute hinter der Rose-Elf stand, war schon vom Fernseher aus beeindruckend und macht mich unheimlich stolz. Ich ahne, wie es sich erst im Borussia Park ganz hautnah angefühlt haben muss. Forza Borussia - Weiter so!
Europa League
2019/20, Gruppenphase, 4. Spieltag: Borussia Mönchengladbach - AS Rom 2:1 (Tore für Borussia: 1:0 Eigentor Fazio, 2:1 Thuram)
Das Spiel war auf jeden Fall spannend bis zum Schluss, aber es war zu jeder Zeit spürbar, dass die Mannschaft w o l l t e - und niemals aufsteckte. Auch nicht, als man dann doch ins Schwimmen geriet. Sommer hielt, was zu halten war und alle rannten, kämpften, ackerten. Das Tor zum 2:1 fiel dann so unerwartet, dass ich es gar nicht richtig mitbekam, aber umso größer war dann der Jubelsturm im Stadion, den man sicher bis Düsseldorf gehört hat! Das war ein Tor der Klasse Colautti-de-Camargo! Dann endlich der Abpfiff. Alle, die das Stadion schon vor Schluss verließen, denen kann man nur sagen: Borussia macht weiter, so lange weiter, bis der Schiri pfeift. Es ist also tendenziell ein Fehler, früher zu gehen...
AntwortenLöschenSchön auch das gemeinsame Feiern vor der Kurve, das Hissen der "Thuram-Flagge" und der ausgelassene Freudentanz - die Fans geben der Mannschaft ihre Unterstützung und auch das kann sicherlich noch Kräfte freisetzen. Gut auch, dass die Mannschaft dann noch eine ganze Runde durchs Stadion machte. Es war einfach ein toller Europapokal-Abend, für alle wahren Borussen... Gruß, Fohlen