2020-05-23

Entscheidende Auslegungssachen

Fünf Punkte Abstand auf den Gegner hätten es werden können. Stattdessen läuft Borussia der Werkself aus Leverkusen im Kampf um die Champions-League-Plätze jetzt wieder hinterher. Das ist kein Beinbruch, denn es wird bis zuletzt ein sehr enges Rennen in dieser Tabellenregion bleiben. Aber es ist aus verschiedenen Gründen ziemlich ärgerlich.

Der Sieg der Gäste ist unter dem Strich verdient, weil sie das Spiel in der ersten Hälfte klar dominierten und der VfL da nur mit etwas Glück und dank der Fahrigkeit von Demirbay im Torabschluss mit dem knappen 0:1 in die Pause ging. Da war sehr wenig von dem zu sehen, was die Rose-Elf zuletzt so ausgezeichnet hatte. Das Tempo nach vorne war nicht das gleiche wie in Frankfurt. Das lag einerseits am gut eingestellten Gegner und andererseits daran, dass der Respekt vor den Kontern der Bayer-Elf bei den Hausherren deutlich spürbar war - und das nicht ohne Grund, wie sich wieder einmal zeigen sollte.

Die zweite Hälfte bot zwar ein ganz anderes, ein echtes Spitzenspiel auf Augenhöhe - Gladbach kam da von Minute zu Minute besser in die gewohnten Räume und war aus meiner Sicht auch die bessere Mannschaft. Doch effektiver vor dem Tor war der Gegner. Borussia hatte genug Chancen, das Spiel für sich zu entscheiden. Bayer aber reichte der Konter über Bellarabi, der zum Elfmeter führte und eine von Gladbach schlecht verteidigte Standardsituation, um den Deckel auf das Spiel zu machen. Und das, obwohl gerade in den letzten zehn Minuten für die Borussen viel mehr möglich war - vor allem Alassane Plea bekam zwei Vorlagen serviert, aus denen er in einem anderen Spiel bestimmt mehr gemacht hätte.

Also: Leverkusen hat es heute in vielen Phasen des Spiels besser gemacht als Gladbach. Das kann man sportlich fair anerkennen - und aus diesem Grund nehme ich die Tatsache, dass wieder einmal die Unparteiischen dem Spiel eine klare Wendung gegen den VfL gegeben haben, mit etwas mehr Gelassenheit zur Kenntnis. Ich will dem Schiedsrichter Sören Storks persönlich auch gar nicht so viel zur Last legen, denn bei den beiden entscheidenden (Elfmeter-)Szenen gibt es Argumente für beide Seiten. Doch dass der Ermessensspielraum auch nach fast zwei vollen Saisons mit dem Premium-Hilfsmittel Videoassistent sich so extrem unterschiedlich auswirkt, ist desillusionierend. Weil es jeden Gerechtigkeitssinn rebellieren lässt, solange mal so und mal so entschieden wird.

Eins vorweg: Ich habe schon wesentlich schlechtere Schiedsrichterleistungen in dieser Saison erlebt. Gut, das Spiel hätte durchaus ein paar mehr Verwarnungen (vor allem in Richtung Leverkusen) vertragen. Andererseits hatte auch Ramy Bensebaini einmal Glück, dass er nicht seine zweite Gelbe kassierte. Zur Strafe fiel aus diesem Freistoß dann das 1:3. Dazu kamen zwei sehr krasse Abseitsfehlentscheidungen gegen Gladbach, die von Storks auch sofort abgepfiffen wurden. In einer Szene war das sehr ärgerlich, weil sich daraus eine gute Chance entwickelt hätte. Es geht mir aber heute weniger um solche Dinge, sondern um zwei Szenen, die unmittelbar miteinander verbunden waren.

1) Die Ringereinlage von Dragovic im Strafraum gegen Thuram, der inder 54. Minute mit seinem dadurch eher unkontrollierten Schuss an Torwart Hradecky scheiterte.
2) Genau 40 Sekunden später der Schuss von Karim Bellarabi neben das Tor, der sichtbar nach seinem Abschluss von Nico Elvedi am Fuß getroffen und gefoult wurde.
Daneben gab es aus meiner Sicht in der zweiten Halbzeit noch eine mögliche Handsituation aus kurzer Entfernung, wo der angelegte Arm von (ich glaube) Demirbay den Richtung Tor geköpften Ball stoppt. Auch das wäre für den Schiri sicher eine schwierige Abwägungsentscheidung gewesen.
Aber wie in den anderen beiden Szenen zeigt es eindrücklich, dass die Spieler auf dem Feld und wir Fans mit dem VAR oft nicht wie gewünscht mehr Klarheit bekommen, sondern jetzt von der oft diskutablen Einschätzung zweier Schiedsrichter abhängen, wie eine Szene bewertet oder ob sie überhaupt in eine Überprüfung durch den Hauptschiedsrichter gegeben wird.

Fangen wir mit dem Elfmeter gegen Elvedi an. Aus meiner ersten Reaktion heraus eine klare Sache. Der Verteidiger nimmt mit seinem Einsatz das Foul in Kauf, auch wenn er ihn nicht klassisch mit dem langen Bein trifft, sondern im reinrutschen abräumt. Regeltechnisch ist das ebenfalls in Ordnung, denn es gibt keine Regel, die ein Foul im Strafraum nach dem Schuss anders bewertet als vor einem Torabschluss. Beides ist zu bestrafen.
Wie immer gibt es aber auch da einen Ausweg, mit dem man sich als Schiedsrichter in alle Richtungen absichern kann. Die Regelexperten von Collinas Erben nannten es in diesem Fall heute ein "ungeschriebenes Gesetz", nach dem nur äußerst selten ein Elfmeter verhängt wird, wenn der Schütze vorher unbedrängt zu einem Torschuss gekommen ist und erst danach gefoult wird - wie hier heute. 
Das stimmt übrigens, ich erinnere mich allein an zwei Situationen in der Vergangenheit, bei denen Gladbachern (Hofmann und Herrmann) Elfmeter mit dieser Begründung versagt wurden, weil sie noch knapp zum Abschluss kamen und ebenso wie Bellarabi heute das Tor verfehlten (wie "unbedrängt" sie da in ihrem Abschluss wirklich waren, lassen wir heute mal der Einfachheit halber weg).
Das Schöne an solchen "ungeschriebenen Gesetzen" ist nun aber, dass man sie mal anwenden kann und dann auch wieder nicht. Egal, wie man dann entscheidet, man hat irgendwie immer recht.

So weit, so unbefriedigend. Wie eingangs erwähnt, hätte ich mich auch nicht über diesen Elfmeterpfiff beschwert - wäre da nicht diese vergleichbare Szene auf der anderen Seite gewesen - ohne, dass der Ball das Spielfeld zwischendurch verlassen hatte. Bensebaini hatte zuvor mit einem langen Ball Thuram gefunden, der wiederum von Dragovic gut sichtbar im Strafraum umklammert wurde und den Ball eben - im Gegensatz zu Bellarabi - nicht unbedrängt aufs Tor schießen konnte.
Nun fiel Thuram aber, wie es seine faire Art ist, nicht wie vom Blitz getroffen zu Boden. Storks fand das Foul vielleicht deshalb auch nicht foulwürdig genug und im Kölner Keller erkannte man daraufhin auch keine klare Fehlentscheidung des Referees im Stadion. Damit bekam Storks auch nicht den Hinweis, sich vielleicht diese elfmeterreife Szene mal lieber noch vor der anderen anzusehen.
Dazu kommt noch, dass mir angesichts der folgenden Foulsituation rätselhaft bleibt, warum Köln überhaupt eine On-Field-Review zu einer Entscheidung empfohlen hat, die gleichfalls keine klare Fehlentscheidung war. Denn weder war der Ball bei Elvedis Foul gegen Bellarabi schon im Aus, was die Sache geändert hätte. Noch war Storks Elfmeterpfiff nach den Regeln völlig unbegründet. Umso besser wäre es gewesen, wenn Yann Sommers Fingerspitzen ein klein wenig fester gewesen wären und den Elfmeter von Havertz nicht ins Tor, sondern neben das Tor gelenkt hätten. Schade drum. Am Ende war es nur ein weiterer Hinweis darauf, dass im Duell der Europa-Anwärter heute Wohl und Wehe mehrmals von nur wenigen Zentimetern abhingen.

Was bleibt, ist wieder einmal ein schaler Beigeschmack. Und der Ärger darüber. Weil es - wieder einmal - eine Benachteiligung des VfL war, und dies - wieder einmal - in einem Spiel gegen einen direkten Konkurrenten, was - wieder mal - zu Punktverlusten führte. Denn heute waren die Rose-Schützlinge bei allem Willen, den sie an den Tag legten, dann leider nicht in der Lage, den zweiten Rückstand aufzuholen und dem Spiel nochmal eine andere Wendung zu geben.

Was war noch?
Die Erkenntnis, dass es in leeren Stadien äußerst schwierig zu sein scheint, einen Rückstand noch zu drehen. Das haben die bisherigen beiden Spieltage eindrucksvoll gezeigt. Der Heimvorteil ist ebenfalls so gut wie weg, was - da es alle trifft - kein großer Nachteil sein muss, aber vielleicht doch eher die Favoritenteams bevorteilt, die auswärts oft ja nur mit einem lautstarken 12. Mann des Gegners aus dem Konzept zu bringen sind.

Die Frage, warum Marco Rose heute sein Wechselkontingent nicht ausschöpfte. Neben dem verletzungsbedingt frühen Wechsel verzichtete er auf einen Halbzeitwechsel. Damit blieben ihm nur noch zwei Wechselgelegenheiten in Hälfte zwei, bei denen er jeweils aber nur einen Spieler tauschte, davon Strobl ebenfalls wegen Verletzung. Ein wenig Frische hätte in der Schlussphase vielleicht wirklich noch gut getan, doch nach dem Wechsel Wendt für Thuram war diese Chance in der 78. Minute bereits dahin. So blieben die Borussen am Ende auch läuferisch mit gut 112 Kilometern unter ihren Normalwerten.

Die Überlegung, ob die lange Phase des isolierten Trainings bei dem einen oder anderen Spuren hinterlassen hat, was das Zweikampfverhalten angeht. Nico Elvedi ist nach wie vor ein bärenstarker Verteidiger. Aber er hatte in beiden Spielen seit der Corona-Pause in einzelnen Szenen sichtbare Schwierigkeiten im Timing, leider auch in entscheidenden. Gegen Frankfurt grätschte er vor dem Gegentor mit dem "falschen Bein" ins Leere, heute hätte er vor dem 1:0 von Havertz den Pass von Bellarabi wohl mit einem langen Bein entschärfen können, ließ ihn aber passieren. Dass er beim Elfmeter nicht glücklich aussah, ist ebenso klar. Ungewohnt auch, dass er sich beim 1:3 so leicht von Bender aus der Bahn räumen ließ. Also sollte er Kraft aus Szene wie der spektakulären Rettungstat gegen Demirbay ziehen, als er in Hinteregger-Manier das frühe 0:2 aus drei Metern verhindern konnte.  

Und schließlich bleibt die Hoffnung, dass es Breel Embolo und Tobi Strobl nicht zu heftig erwischt hat und beide schnell wieder zur Verfügung stehen. Gerade Embolo hätte uns vorn mit seiner Wucht und Schnelligkeit gut getan, vor allem gegen einen Pillentorwart, der auch heute, wenn er unter Druck gesetzt wurde, keinen Ball zum eigenen Mann bekommen hat. 

Bundesliga 2019/20, 27. Spieltag: Borussia Mönchengladbach - Bayer Leverkusen 1:3 (Tor für Borussia: 1:1 Thuram)

1 Kommentar:

  1. Schön, wie sie es auf "Seitenwahl" gesagt haben: "Die empfindliche Niederlage gegen Leverkusen ist sicher nicht gänzlich unverdient, hätte aber durchaus einen anderen Verlauf haben können, wenn sich der DFB mit seinen Unparteiischen mal auf eine Linie einigen könnten, die nicht ständig 'im Zweifel gegen Borussia Mönchengladbach' heißt." - Dem ist aus meiner Sicht nichts weiter hinzuzufügen...

    Wäre schön, wenn man den Schiris mal - rundum, ob nun Feld oder "Keller" - eine Schulung angedeihen ließe, dass es EINE klare Linie gibt. Nicht mal so, mal so. Aber nun denn: s. o.

    Vermutlich - so kommt es einem irgendwie vor - möchte man die wahre Borussia zwar als Underdog kämpfen, aber nicht siegen sehen. Die CL soll vermutlich dann doch den "großen" Clubs wie Bayern, Dortmund, dem Kunstprojekt Leipzig ("Geld schießt am Ende doch Tore") und Leverkusen oder Schalke gehören. Nerv. (Nein, ich bin momentan nicht sachlich!!)

    Gruß,
    Fohlen

    AntwortenLöschen

Wenn du auf meinem Blog kommentierst, werden die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt. Mehr Infos dazu findest du in meiner Datenschutzerklärung und in der Datenschutzerklärung von Google.