2022-10-30

Nachlassende Druckresistenz

 Es ist erstaunlich. In der Fußball-Bundesliga steht am 12. Spieltag zum wiederholten Mal eine Mannschaft an der Spitze, die fußballerisch Durchschnitt, von der Spielanlage ausrechenbar und vor allem und trotzdem immer wieder mit Wucht und Einsatz erfolgreich ist. Das reicht derzeit aus, um von ganz oben zu grüßen.

Das ist kein Kompliment für die Liga. Aber es ist auch irgendwie erklärbar, wenn man Woche für Woche sieht, wie sehr brachiale, rücksichtslose Zweikampfgewalt seit Jahren durch großzügige unparteiische Spielleitungen geradezu gefördert wird - gegenüber dem ballorientierten Fußballspiel. Aber das ist eine Grundsatzdiskussion, die für das Gladbacher Gastspiel in der Alten Försterei nur am Rande von Belang ist.

Denn Borussia hatte 45 Minuten eine Lösung gefunden, den Spitzenreiter vor fast unüberwindliche Probleme zu stellen. Und stand am Ende nach 97 Minuten leider dennoch als verdienter Verlierer da, weil man es in der zweiten Halbzeit nicht verstanden hatte, Union daran zu hindern, ins Rollen zu kommen.

Erste Hälfte: Man überließ Union - etwas unüblich für den Farke-Ansatz - mehr den Ball als es der eigene Kader vielleicht hergegeben hätte. Und da Weigl und Co. aus einer konsequenten, disziplinierten, wachen Defensiveinheit heraus mit viel Geschick agierten, war Union zunehmend ratlos und auch nicht so druckvoll wie sonst. Wenn es sich ergab, ging es möglichst zielstrebig nach vorn, allerdings auch diesmal wieder oft nicht sauber genug im Passspiel oder nicht zwingend genug.

Deshalb brauchte es schon eine Standardsituation für den nicht ganz zwingend erwarteten Führungstreffer durch Nico Elvedi, der fast ebenso schlecht verteidigt wurde wie später auf der anderen Seite bei den spielentscheidenden Szenen gegen Gladbach. 

Gleich in der nächsten Szene hätte Thuram nach feinem Alleingang auf 2:0 erhöhen können, doch sein Kopfball landete nur auf dem Tornetz. Hätte der Ball gesessen, dann wäre der Nachmittag möglicherweise einen positiveren Ausgang genommen. Zuvor hatten die Borussen auch etwas Glück gehabt, weil Khediras von Becker abgefälschter Weitschuss vom VAR zu Recht wegen Handspiels kassiert wurde. Doch sonst kam recht wenig von den Gastgebern, was der Gladbacher Abwehr um Torwart Tobi Sippel den Angstschweiß auf die Stirn hätte treiben können.

Das blieb auch nach der Pause zunächst so. Bis Trainer Urs Fischer nach einer Stunde mit Leweling, dem Ex-Gladbacher Sven Michel und Trimmel drei frische Kräfte brachte, die für viel mehr Bewegung und Druck auf den Gladbacher Spielaufbau sorgten. Die Farke-Elf wich zunehmend zurück und schaffte es den Rest des Spiels dann fast gar nicht mehr,  für Entlastung zu sorgen. Geschweige denn, einen Nadelstich zu setzen oder einen Konter ins Ziel zu bringen. Da kehrte sich der Match-Ansatz ins Gegenteil, weil Union zunehmend die eigenen Stärken durchbrachte, Gladbach die seinen aber gar nicht mehr.

Es wurde ein Spiel auf ein Tor. Oder anders gesagt: Es wurde ein Lange-Bälle-Hagel tief in die Gladbacher Hälfte, ein Zermürbungsspiel der Abwehr, die eine halbe Stunde nur noch damit beschäftigt war, einen geklärten Ball nach dem anderen aus dem eigenen Abwehrdrittel zu prügeln, der aber postwendend zurückkam. 

Union spielte nicht schlau, Union spielte nicht besonders effektiv, sondern auf Abnutzung beim Gegner. Und das zahlt sich eben oft am Ende aus - wenn man genug Kraft und Wucht aufbieten kann. Dass die Köpenicker stets über diese Qualität verfügen, ist unbestritten. Es ist ärgerlich, dass es auch in dieser Saison wohl wieder und wieder funktioniert.

Dass der FCU das Spiel drehen konnte, lag heute natürlich auch an individuellen Fehlern von Gladbacher Spielern. Aber ob es sonst zu einem Punkt gereicht hätte, weiß man auch nicht. Dazu war Borussia über das ganze Spiel hinweg (trotz guter Ansätze vor allem mit dem gut aufgelegten Nathan Ngoumou) zu wenig zwingend in des Gegners Hälfte. Und vor allem in der Schlussphase viel zu weit weg von einem kontrollierten Spiel.

Ja, Tobi Sippel sah beim Ausgleich und beim wegen Abseits kassierten Trimmel-Treffer gar nicht gut aus. Und er wirkte in dieser Phase überhaupt äußerst unsicher, als ob er die Bälle nicht gut hätte sehen können, die da in den Strafraum flogen. Andererseits können wir froh sein, dass Behrens beim 1:1 per Kopf das Tor traf, denn sonst wäre für Sippels Fausttreffer im Gesicht des Gegners ein Elfmeter und wahrscheinlich auch Rot statt Gelb die Konsequenz gewesen. Das hätte angesichts der Verletzungsmisere gerade noch gefehlt.

Beim Siegtreffer des Gegners sah die gesamte Abwehr schlecht aus, weil kollektiv verpennt wurde, dass Union die Ecke kurz ausführen wollte. Und in der Mitte kam Jantschke nicht ins Kopfballduell gegen Doekhi. Zuvor hatte Herrmann mit einem Freistoß in der Berliner Hälfte noch die Möglichkeit gehabt, mehr Zeit von der Uhr zu nehmen. Doch sein langer Ball flog weit an allen Gladbachern vorbei in die Arme des Torwarts und ermöglichte so noch einen schnellen Angriff, der schließlich in den verhängnisvollen letzten Eckball mündete.

Sippel, Herrmann, Jantschke: Das bedeutet, drei der erfahrensten Borussen waren in der Schlussphase nicht so recht auf der Höhe - obwohl zwei von ihnen ja gerade erst auf den Platz gekommen waren. Das war neben dem Last-Minute-Treffer eine weitere ernüchternde Erkenntnis. Es ist derzeit kein Impuls von der Bank zu setzen. Die Youngster wirfst du nicht oder nur in der Not in so ein Spiel, und die Routiniers liefern nicht. So bleibt nur die immer noch gut besetzte erste Elf, die über die gesamte Spielzeit gegen einen Gegner durchhalten muss, der aber fünf gleichwertige Wechsel vollziehen kann.

Insofern muss man heute bei aller Enttäuschung und bei allem Ärger ehrlich bleiben. Sommer, Lainer, Hofmann, Itakura, Neuhaus, Wolf und der gelbgesperrte Koné - diese Ausfälle sind für Borussia in Qualität und Kaderbreite nicht zu kompensieren. Hoffen wir, dass jetzt nicht noch Bensebaini dazukommt, der kurz vor Schluss verletzt rausmusste. Aber wenn man dies so konstatiert - ausdrücklich auch angesichts der heutigen taktischen Ausrichtung und des Spielverlaufs - dann muss man die Erwartungen auch entsprechend herunterschrauben. 

Es gilt jetzt die Zähne zusammenbeißen und die letzten drei Spiele vor der aus irgendwelchen Gründen diesmal monatelangen Winterpause zu überstehen, und das mit möglichst sechs Punkten aus den Partien gegen Stuttgart, Bochum und den BVB. 

Und dann geht es in Phase zwei des Farke-Projekts. Die umfasst die weitere Transformation in eine defensiv widerstandsfähige, fehlerarme und offensiv ballorientiert effektive Mannschaft. Ein bisschen davon haben wir - immer wieder phasenweise - schon gesehen. Daniel Farke hat durch diese sogenannte WM zumindest mehr Zeit als sonst, um Fortschritte zu erreichen. Inwieweit dies dann auch bei auslaufenden Verträgen auch von personellen Veränderungen begleitet wird und ob diese dann adäquat ersetzt werden können, ist mindestens genauso spannend.

Schiedsrichter Harm Osmers handele ich heute recht kurz ab. Er machte nichts Spielentscheidendes und passte sich auch nicht den teilweise grottigen Auftritten seiner Kollegen am Wochenende an. Aber er ließ dennoch genug zu kritisieren. 

Unverständlich fand ich vor allem am Ende die sechs Minuten Nachspielzeit - natürlich in Relation zu dem, was wir sonst so oft an Mini-Nachholminuten erleben. Gerechtfertigt war das aus meiner Sicht heute nicht. Wohl aber, dass Osmers die letzte Ecke noch ausführen ließ, weil ja in der Nachspielzeit der Ball auch noch einige Male geruht hatte. Aber auch da verhalten sich die Schiris ja selten einheitlich. 

Und sonst: Wie so oft begann er tatsächlich gut, war umsichtig in der Bewertung Gelb oder nicht, kam dann aber im Verlauf des Spiels in Schwierigkeiten, weil er es versäumte, irgendwann im härter werdenden Spiel Grenzen zu setzen.

Pech hatte Marcus Thuram, dass Osmers die ständige Festhalterei seiner Gegner nicht ausreichend würdigte. Glück hatte Tikis, dass er ihm für seine Aktion gegen den Torwart nicht Gelb zeigte, als er Rönnow den Ball beim Abschlag wegspitzelte. Falsch war das von Osmers trotzdem. Wahrscheinlich hätte er Thuram dann später auch nicht unbedingt wegen Meckerns verwarnt, als sich die gesamte Mannschaft bei ihm darüber beschwerte, warum er bei einer glasklaren Abseitsposition noch so unglaublich lange weiterlaufen ließ. Aber weiß man es? Wir haben ja schon weitaus kuriosere Platzverweise gegen uns gesehen.

Auf der anderen Seite hatten Ryerson und Michel Glück, dass Osmers nicht das in der Schlussphase durchaus angebrachte Gelb-Rot nach heftigen Fouls zückte. Das hätte den Angriffsdruck der Unioner vielleicht noch etwas bremsen können. Aber nach zwei zurecht aberkannten Toren der Gastgeber und einigen Szenen, die die Stimmung in der Alten Försterei hochkochen ließ, war er vielleicht dazu nicht bereit. Was am Ende auch immer einen kleinen Sieg der brachialen Zweikampfführung über den Fußball darstellt. Aber so ist der moderne Fußball. Stand heute könnte man damit sogar Meister werden.  

Saison 2022/23, Bundesliga, 12. Spieltag: FC Union Berlin - Borussia Mönchengladbach 2:1. Tor für Borussia: 0:1 Elvedi.

Ein Tor, kein Punkt - der Spendenstand erhöht sich leicht auf 63 Euro.

Das gilt in der Saison 22/23: Für jedes erzielte Tor von Borussia in Bundesliga oder DFB-Pokal zahle ich 1 Euro. Für jedes Tor von Tony Jantschke oder Christoph Kramer: 10 Euro. Gehaltener Elfmeter von Yann Sommer (oder einem Ersatzmann): 2,50 Euro; Zu-Null-Spiel: 1 Euro. Derbysieg gegen K***: 10 Euro. Siege gegen Bayern, Dortmund oder Leipzig: 10 Euro. Ein Sieg in Freiburg: 10 Euro. Einstelliger Tabellenplatz am Saisonende: 10 Euro. Internationaler Startplatz am Saisonende: 20 Euro. Deutsche Meisterschaft: 122 Euro. DFB-Pokalsieg: 50 Euro. Gladbacher Torschützenkönig: 30 Euro.

6 Kommentare:

  1. Nur 2 Anmerkungen. Erstens: Union ist ausrechenbar und durchschnittlich. Und Borussia verliert dennoch. Zweitens: Ngoumo? Hannes Wolf 2.0

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  2. Typisch Borussia oder alles wie immer...!!

    Es ist schon ziemlich frustrierend, wenn man als langjähriger treuer Fohlen-Anhänger, wie selbstverständlich, von einer Niederlage bei UNION ausgeht und in seiner Einschätzung auch (immer wieder) noch bestätigt wird....
    Ernüchternd ist diesmal zudem die Erkenntnis, dass die Mannschaft sich weniger durch einen hoch pressenden Gegner sondern mehr durch ein eher einfältiges "Kick and Rush" aus dem Konzept bringen und letztendlich auch die Butter vom Brot nehmen ließ. Das Ganze noch begleitet von fehlender Cleverness und latenter Naivität....
    Auch eine 2 Tore Führung hätte am Ende wohl nicht für einen Sieg gereicht....unbegreiflich, unerklärlich, unentschuldbar...
    Es ist einfach von vorne bis hinten zu wenig für 90 Min. !
    Die fehlende Kaderbreite ist dabei mehr als offensichtlich und läßt bei mir die Sorgenfalten, mit Blick auf die nächsten Spiele, sicherlich auch nicht kleiner werden...
    Unter diesen Voraussetzungen verliert sich unsere Borussia immer mehr im Nirgendwo !!

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  3. Antworten
    1. Sorry mein Text war auf einmal weg, jetzt siehe unten unter Anonym... tut mir leid
      Kann man Farke nicht mal sagen das wir noch einen U23-Torhüter haben, der mit Sicherheit nicht schlechter als Sippel ist?? Der ist ja nur noch ein Fliegenfänger. Fliegt an Flanken vorbei das ist ja unglaublich.

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  4. Wenn man die letzten Spiele nimmt man man doch eindeutig sagen das Sippel uns ein paar Punkte gekostet hat. Er ist eindeutig nicht bundesligatauglich!!!

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  5. Armer Tobi, Sympathieträger ohne Frage, aber er kostet momentan Punkte. Viel schlimmer finde ich, dass von der Bank Null Impulse kommen. Leider heute sogar eher so gar nicht: Flacos Freistoß ganz unterirdisch und Fußballgott mal unglücklich... Wo ist der "Druck" aus Reihe 2? Ich fürchte die Personalpolitik in der U23 und in der 1. ist nicht ganz ausgewogen ... oh, oh., Vielleicht doch mal Noß und Co. reinwerfen?

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